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13
Dez
2009

Die Großvaterkiste

Das Grab ist eingeebnet worden; die Ruhezeit von zwanzig Jahren längst abgelaufen.
Sie weiß dennoch, wo ihr Vorfahre begraben ist. Vorfahre, was für ein Wort, denkt sie. Unter einer Eibe, an einem kühlen, schattigen Platz. Direkt an der Friedhofsmauer, hinter der sich eine vielbefahrene Straße stadtauswärts windet. Immer, wenn sie auf dieser Straße unterwegs ist, spürt sie dem Großvater nach, in Gedanken, aber sie ahnt, dass sie eigentlich nicht weiß, wer dieser Mann war.
In den Träumen sieht sie ein Schloss. Vom Küchenfenster aus. Sie fragt sich, ob ihr das Gedächtnis einen Streich spielt. Nach all den Jahren. Sie glaubt, das frischgescheuerte Treppenhaus zu riechen. Es ist Erinnerungsgeruch. Ob es ihn gab? Oder gibt?
Eine Zeitlang kam er die Familie oft besuchen. Unangemeldet. Überraschend. Sie schaute aus dem Fenster, um die Mittagszeit, nach der Schule, und freute sich, wenn der alte, hagere Mann langsam die Straße zum Haus heraufgelaufen kam. Er hatte ein dunkles Jackett an und trug eine lederne Aktentasche bei sich. Oft blieb er stehen, weil die Beine nicht mehr wollten. Setzte die Tasche ab. Strich sich das Haar nach hinten. Nahm die Tasche wieder auf und ging weiter. In Zeitlupe. So, wie er wohl ein Leben lang weitergegangen war.
Sie pflückt Blumen von Parkwiesen. Blassblaue Blumen. Vergissmeinicht. Eine Männerstimme ruft sie. Die Kinderhände können den Strauß kaum halten. Irgendjemand sucht eine passende Vase.
Er brachte Schokolade mit, Rotsternschokolade. Sie mochte Schokolade und sie mochte ihn.
Ihre Mutter hingegen war gereizt, wenn er zu Besuch kam und deutete an, er habe Streit mit seiner zweiten Frau und sei nur deshalb da. Die hatte er kurz nach dem Tod der Großmutter geheiratet. Übereilt und hastig. Er konnte nicht allein sein, behauptete die Mutter. Keinen Haushalt führen. Aber es musste weitergehen. Immer. Irgendwie.
Im Mund der Geschmack von Bayrisch-Blockmalz. Eine viereckige Großmuttersüßigkeit. Zu Kieselform gelutscht. Man kann die wohlschmeckenden Steine gegen das Licht halten. Aber dann kleben die Hände.
Der Vater blieb nachmittags länger im Institut und schwieg ausdauernd, wenn der Schwiegervater im Wohnzimmer saß. Er hielt sich plötzlich, entgegen seinen sonstigen Angewohnheiten, bei der Mutter in der Küche auf, um keine Gespräche mit dem Gast führen zu müssen. Es war nicht so, dass er ihn völlig ignorierte, aber er beschränkte den Kontakt auf ein Mindestmaß, das ihr geradezu unanständig vorkam. Für den Großvater war der Schwiegersohn ein „Studierter“. Einer, der zwar klug daherreden konnte, aber keinen Nagel gerade in die Wand bekam.
Der Großvater verbrachte die Tage mit Lesen. Vor allem Zeitung. Er sah auch fern. Hörte Radio. Schrieb Postkarten mit zittriger Hand. Besuchte die Verwandte in der Sächsischen Schweiz. Nickte im Sessel ein. Schnarchte dabei fürchterlich. Schrak zusammen. Manchmal konnte er seine Träume dann nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden. Er erzählte, dass eine berühmte Opernsängerin ihn zu Hause besucht, er Robert Lemke im Zug getroffen habe. Dass Vicky Leandros ein feines Mädel sei. Sie verbarg ihr Kichern schlecht. Gluckste. Die Mutter war hin- und hergerissen. Auch sie musste lächeln. Ein trauriges Lächeln. Dann aber wurde sie ernst und drohte der Tochter. Alle Menschen würden einmal alt.
Brombeerteenachmittage. Berliner Zungen aus dem besten Cafe am Platze. Der Blätterteig krümelt. Die Creme muss man sich für zuletzt aufheben. Sie ist das Beste.
Die Mutter bäckt einen Frankfurter Kranz. Nach überliefertem Familienrezept. Der Geruch gerösteter Kokosraspeln wabert durch die Wohnung.
Einmal riss der Großvater, der mit wenig Schlaf auskam und bis zum Sendeschluss fern sah, die Schlafzimmertür auf und schrie in die Dunkelheit, dass das Ultimatum der Entführer in diesen Stunden abliefe. Sie würden die Maschine sprengen. Ihr Kinderherz pochte wild. Keiner verstand ein Wort. Aber alle wussten: etwas Bedrohliches war geschehen. Der Vater murmelte verschlafen: „Lass uns in Ruh.“ Die Schlafzimmertür wurde leise geschlossen, der Vorfall nie wieder erwähnt.
Sie rechnet. Zehn Jahre ist sie alt. Mogadischu. Ein Wort wie ein Lichtspalt, der ins Zimmer fällt. Grell.
Manchmal schwärmte der Alte auch von der ersten Frau. Von der, die so zeitig gestorben ist, nach einem Herzinfarkt. Die Mutter hatte erzählt, dass die Ehe der beiden nur in den Anfangsjahren glücklich gewesen war. Dann habe er zur Wehrmacht gemusst und der Krieg habe ihn verdorben. Verdorben. Wie verschimmeltes Toastbrot? Erst Jahre später begriff sie, was die Mutter hatte erklären wollen. Der Großvater hatte Schreckliches erlebt. Tagelang in Schützengräben gelegen. Schwarze Skorpione liefen die Wände entlang. Die Sterbenden schrieen nach ihren Müttern. Er fand sich nicht wieder in der Familie. Er kam nie wirklich zurück zu seinen lebhaften Zwillingstöchtern und der Frau, blieb für immer ein Fremdkörper im Getriebe der thüringischen Kleinstadt.
Im Bad, auf dem Fensterbrett, steht ein Einweckglas mit Zähnen. Sie setzt sich auf den äußersten Rand der Toilette und schaut in die andere Richtung, zur Tür.
Einmal hatte der Großvater eine abgewetzte, graue Kiste mitgebracht. Seine Fotos von der Front seien darin, sagte er leise. Er hob den Deckel ab. Ein eigenartiges Geräusch, das an ein Seufzen oder ein Ausatmen erinnerte, entstand. Muffiger Geruch machte sich breit. Die Bilder waren vergilbt. Von Insekten angefressen. Sie hatten einen weiß gezackten Rand. Junge Männer in Uniformen waren darauf zu erkennen. Lastwagen. Weite Felder. Häuser.
Der Großvater breitete die Fotos auf einer bunt gemusterten Wachstuchdecke aus. Schweigend und ernst.
Da kam der Vater von der Arbeit. Wieder später als gewöhnlich. Aber gerade noch im rechten Moment. Er erblickte die Bilder, sah in neugierige Tochteraugen und forderte den Großvater mit harter, lauter Stimme auf, alles sofort in die Kiste zurückzupacken. Er solle das Zeug wieder mitnehmen. Unverzüglich. In seiner Wohnung sei kein Platz für diese Dinge. Nicht einmal im Keller. Der alte Mann packte seine Erinnerungen zurück in die Kiste. Ohne ein Wort. Ein Seufzen war zu vernehmen.
Das Grab ist eingeebnet worden. Die Kiste verschwunden. Spuren verlieren sich.
Sie träumt von Schlössern, von Blumenwiesen und Skorpionen. Und wüsste gern, wer er war.

10
Dez
2009

adventszeit



es ist wie in jedem jahr.
ganz fest nimmt frau nisavi sich vor, die wochen vor weihnachten ruhig laufen zu lassen und ein bisschen zu genießen, aber dann brechen gefühlte hundert weihnachtsfeiern und bastelnachmittage über die familie herein und nix ist mit besinnlichkeit.

wir haben es dennoch geschafft, dass haus weihnachtlich zu dekorieren.

auch plätzchenbacken stand schon auf dem programm. das problem ist lediglich, dass die auf(fr)esserei schneller vonstatten geht als die produktion. vermutlich muss schon bald für nachschub gesorgt werden.

weihnachtsmarkt bei dauerregen macht keinen spaß - aber das ist keine neue erkenntnis.

der wetterdienst stellt uns heute schnee in aussicht, was mich im hinblick auf die zu erwartenden straßenverhältnisse zumindest besorgt stimmt, aber so rein von der atmosphäre her wäre das schon nett.

noch acht tage.

28
Nov
2009

laipzsch!

23
Nov
2009

never mind the tannenbaum

irgendwie haben wir uns alle mit der seuche auseinandergesetzt. mit unterschiedlichen krankheitsverläufen und endzuständen.

mir taten nur die gräten unheimlich weh und ich bin ein paar tage wie ferngesteuert durch die heimischen hallen gekrabbelt. in sachen hausarbeit wurde natürlich nur das nötigste.

der kleine hatte mächtig zu kämpfen. das fieber wollte und wollte nicht runtergehen. es gab ein paar nächte, da habe ich stündlich gemessen, um einen unkontrollierten anstieg zu vermeiden.
inzwischen ist er aber wieder auf dem damm und seit heute erneut in der schule. wir haben auch wie die verrückten stoff nachgearbeitet und hausaufgaben erledigt. (ICH weiß jetzt bescheid über altsteinzeit, echte/unechte brüche UND lurche!!!)

der große hat zwei tage gebraucht, dann wars wieder gut. leider hat ihn auch die woche aus-zeit nicht davor bewahrt, heute erneut zusammenzuklappen. keine ahnung, was das nun wieder ist.

einzig das junge frollein blieb bislang von allen bakteriellen anfeindungen bewahrt.

die fiebernächte habe ich übrigens lesend verbracht: rohinton mistry: das gleichgewicht der welt. ein sehr weises buch, das man nur schlecht aus der hand legen kann.

und herr liefers hat mir (aus aktuellem anlass!) "der reinfall" von carl hiaasen vorgelesen. sehr amüsant und kurzweilig. ich musste manchmal echt laut lachen.

und so kann ich wohl zusammenfassend sagen, dass wir uns auch durch die schweinsgaloppphase irgendwie durchgewurstelt haben.
was solls auch. wenn man jammert, wird nix besser. man muss das beste draus machen und irgenwie gibt es ja immer etwas, das einen aufrichtet, auch dann, wenn man die schnauze mal wieder gestrichen voll hat.

das letzte wochenende war ein stärkungsaufrichtungserholungswochende. BERLIN! BERLIN!

abgesehen davon, dass sich die unterkunft (ferienwohnung, eigentlich absolut in ordnung) in einem etwas anrüchigen viertel befand und die bahn in sachen verspätung und anschlüsseverpatzen wieder einmal ganze arbeit geleistet hat, ging alles glatt und wir konnten die freie zeit in vollen zügen genießen.

am freitag gabs ein leckeres essen beim italiener, am samstag eine ausgedehnte shoppingtour mit weihnachtsgeschenkhaschung und abends das ukulelekonzert "never mind the tannenbaum".

wie immer war das "ukuleleorchestra of great britain" ein echter genuss.

http://www.ukuleleorchestra.com/main/home.aspx

das neue programm vereint einige bewährte nummern (peter brooke turner performing NIRVANA etc), weihnachtliches und ein paar echt gute neuigkeiten. zum beispiel eine ukulele-version von Je T'aime...Moi Non Plus (birkin-gainsbourg). zum niederknien!!!
ein entspannter abend voller lachen und fröhlichkeit.



der sonntag war der kunst gewidmet: "bilderträume"
in aller ruhe sahen wir uns die sammlung pietzsch in der neuen nationalgalerie an. surrealisten hauptsächlich. ich glaube, ich habe den ersten magritte meines lebens im original gesehen. und ein schönes porträt von frida kahlo.

http://www.rbb-online.de/themen/dossiers/ausstellungen/ausstellungen_in_berlin/bildertraeume.html

ja, und sozusagen als krönung des ausflugs gerieten wir noch in die premiere der minimoys und hatten mühe, uns aus dem pulk kreischender teenies zu lösen, noch BEVOR bill kaulitz auftauchte.

13
Nov
2009

zickzack in die nächste katastrophe

nun. es war zu erwarten. in diesem jahr bleiben wir von nichts verschont.

die seuche hat uns befallen. das mittelkind lag am vergangenen wochenende mit vierzig fieber flach. ab montag ging es ihm wieder gut, aber ich habe ihn zuhause gelassen, um niemanden zu gefährden. er langweilt sich fürchterlich, aber glücklicherweise hat amazon geliefert, u.a. auch die bücher, die er für sein referat zu den KREUZZÜGEN benötigt, und nun hockt er (zwangsverpflichtet) am schreibtisch und kritzelt missmutig in seine hefte.

ab dienstag kränkelte auch der kleine. fieber, husten, durchfall, erbrechen - das volle programm. ihn hats, wie immer eigentlich, am schlimmsten erwischt.

die große ist noch symptomfrei, lüftet ohne erbarmen das haus, auch wenn brüder und alte mutter zittern, wäscht sich ununterbrochen die hände und meidet den kontakt mit den kontaminierten familienmitgliedern. braves kind.

ich kann gliederschmerzen und halsweh vermelden - kein fieber.
mir ist es wenigstens temporär möglich, mal ein paar handgriffe im haushalt zu machen. allerdings fühle ich mich nach ein bisschen wäsche wie vom bus überfahren.

als hätte ich es geahnt, hatte ich am wochenanfang noch einmal lebensmittelvorräte aufgefüllt, sodass wir bis heute nicht hungern mussten.

hilfsbereite, aber vorsichtige, mitmenschen hatten mir auch angeboten, mir grundnahrungsmittel zu besorgen und sie auf der gegenüberliegenden straßenseite abzustellen...

ich werde mich allerdings morgen höchstselbst auf die jagd nach essbarem begeben. (notfalls können wir immer noch auf marmelade und rumtopf umsteigen.)

8
Nov
2009

autumn mood

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30
Okt
2009

jeder hat ein geheimnis - VERBLENDUNG

ich habe vergangenen herbst darüber geschrieben, dass mich die millenium-trilogie von stieg larsson gefesselt und begeistert hat.

nun kommt die verfilmung von "verblendung" in die kinos.

wie so oft, fürchte ich mich ein bisschen vor der filmischen umsetzung, weil sich in meinem kopf bereits beim lesen klare bilder geformt haben, die ich nicht "verlieren" möchte.

wie so oft werde ich NICHT enttäuscht.
niels arden oplev setzt die literarische vorlage brilliant um.
er bleibt sehr eng am roman, auch in sachen brutalität und gewalt, und erzählt die geschichte des verschwundenen mädchens harriet mit eindrucksvollen bildern.

wenn man, so wie ich, den roman kennt, fehlt natürlich ein wenig die spannung, dafür ist es wirklich faszinierend, zu beobachten, wie michael nyquist (---> WIE IM HIMMEL) als kalle blomquist agiert. in sachen bestzung ein glücksgriff, würde ich meinen.
allein noomi rapace stiehlt ihm in der rolle der introvertierten lisbeth salander ein bisschen die show. sie ist bestechend in ihrer widersprüchlichkeit und anrührend dann, wenn sie sich, in einigen wenigen momenten, von ihrer verletzlichen seite zeigt.

erwähnenswert finde ich außerdem, wie der film "alte" fotoaufnahmen fast zum leben erweckt und den soundtrack.

dieser auftakt macht lust auf die noch fehlenden zwei verfilmungen der millenium-trilogie.

26
Okt
2009

Die Päpstin...

kriegt von mir auf einer Skala von eins bis zehn eine siebenkommafünf, weil der film im ersten drittel ein paar mächtige längen hat und mir die achtungwirsindjetztimmittelalter!-szenen ein bisschen auf den geist gehen.

johanna wokalek macht für meine begriffe einen sehr guten job.
köstlich und schauspielmäßig grandios: fred john goodman.

alles in allem eine recht gelungene verfilmung.

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